Rainer Welle, geboren 1956, studierte Germanistik, Geschichte und Sportwissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Seit seiner Dissertation – »… und wisse das alle höbischeit kompt von deme ringen« Der Ringkampf als adelige Kunst im 15. und 16. Jahrhundert (1993) – publiziert er auf dem Gebiet der frühneuhochdeutschen Fachprosa des Fechtens und Ringens mit dem Schwerpunkt ihrer sozialhistorischen Verortung in der spätmittelalterlichen Lebenswirklichkeit an der Schwelle zur Neuzeit. Er lebt als freier Publizist in Pfaffenweiler.

Das Buch

»So magstu im auch ein mordstuck thun« – solche und ähnliche Ringkampfanweisungen sind in der hier vorgestellten anonym verfassten Handschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu finden. Was dem heutigen Leser und Ringkampffreund als unsportlich erscheinen mag, verweist jedoch auf die enge Verflechtung des Ringens mit der Alltagswirklichkeit des mittelalterlichen Kriegers. Die heute in der Augsburger Universitätsbibliothek aufbewahrte Handschrift enthält in Wort und Bild die umfangreichste und klar strukturierteste Ringkampflehre des gesamten Mittelalters. Die Bedeutung der anonymen Ringkampfdokumentation war Zeitgenossen durchaus bewusst, und so scheint es nur folgerichtig, dass auch Albrecht Dürer als einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit sie in Händen hielt und nahezu vollständig für sein eigenes Kampfbuch getreu kopierte.

Daten

… vnd mit der rechten faust ein mordstuck
von Dr. Rainer Welle
Gebundene Ausgabe: 472 Seiten (in 2 Bänden)
Verlag: Herbert UTZ Verlag,  (2. September 2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3831643776
ISBN-13: 978-3831643776

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Buchrezension
von Harald Winter, März 2015

Endlich kommen beide Teile zum Tragen

Das in Fechterkreisen als Codex Wallerstein bekannte Werk besteht aus zwei unterschiedlichen Werken, die nachträglich zu einem Codex zusammengefasst wurden. Dabei fristete der ältere Teil des Buches (ca. um 1400 – 1420 entstanden) eher ein Schattendasein. Nicht nur aus dem Grund, dass er weniger umfangreich ist oder gar aus dem Grund, dass er hinter dem Hauptwerk eingebunden wurde, sondern wohl eher darum, dass dieser Abschnitt komplett ohne Text auskommen muss.

Der neuere, größere Bestandteil des Buches entstand wohl eher um die Zeit von 1465 – 1475 und beinhaltet Stücke zum Ringen, dem Dolch, dem Messer (Dussack) und dem Schwert, wobei der Schwerpunkt eindeutig beim Ringen liegt.

Doch allein der Name des Buches war für den Autor Dr. Welle ein Stein des Anstoßes und so kritisierte er seine Kollegen, die sich ebenfalls der Erschließung dieses Werkes widmeten, dass sie ihn als „Codex Wallerstein“ (das Werk war Bestandteil der Wallersteinschen Sammlung) bezeichneten – gab es doch in dieser Sammlung mehr als nur ein Buch zum Thema Kampfkunst – Fechten – Kriegswesen. Dr. Welle bezeichnet daher das Buch als „Baumanns Fecht- und Ringkampfhandschrift“, da nur dieser Titel eine Einzigartigkeit mit sich bringt (mal abgesehen von der Katalognummer 😉 ).

Eine kodikologische Erfassung wie aus dem Lehrbuch

Das Buch stellt sich als reinrassige Arbeit für Akademiker und Hobbygermanisten bzw. Hobbyhistoriker heraus. Obwohl der Inhalt des Buches eine sogenannte Fecht- oder Kampfhandschrift beschreibt, werden praxisorientierte Betreiber dieser Kampfkunst mit diesem Buch nichts anfangen können. Es beinhaltet zwar eine Transkription, jedoch leider keine Interpretationen zu den Kampfstücken.

Für den Fechter, der sich allerdings auch für den Hintergrund der Kunst interessiert, ist es ein absolutes Muss dieses Buch zu erstehen. Dr. Welle schuf hier nämlich eine Erschließung des Codex, die auf für längere Zeit ihresgleichen suchen wird müssen.

„A Watsch’n wüst haum? Na guat, da hast!“

Die Struktur, die Dr. Welle für dieses Werk gewählt hat, lässt schon auf den teilweise provokant formulierten Inhalt schließen. Er beginnt damit die bisherigen Arbeiten, die es zu diesem Thema gibt, zu beleuchten und zieht dabei doch eine recht deutliche Bilanz. Unter dem Schlussstrich ist zu finden, dass keine der bisherigen Arbeiten dem Buch auch annähernd gerecht wird und vor allem, dass sie alle ungenau und falsch sind.

Er zerlegt dabei sowohl die Werke von „Altmeistern der Forschung“ wie Wassmannsdorff und Dörnhöffer, als auch die von Hils und Zabinski/Walczak. Auch wenn es so ist, dass Dr. Welle ihnen ungenaues Arbeiten, Oberflächlichkeit oder gar Inkompetenz vorwirft – er tut es stets begründet und mit dem nötigen akademischen Respekt. Nichtsdestotrotz teilt er ganz heftig aus. Besonders eingeschossen hat er sich auf die Werke von Hans-Peter Hils, Friedrich Dörnhöffer und auch Heidemarie Bodemer.

Selten so viel Spaß beim Lesen eines so trockenen Buches gehabt

Dank der vielen Seitenhiebe auf das Kollegium, sowie deren Begründungen und Richtigstellungen, macht es viel Spaß die ersten Kapitel dieses Buchs zu lesen. Dr. Welle behandelt auch erstmals ausführlich und intensiv Angelegenheiten wie „Abstände des Schöpfgitters“ der Papierhersteller, Platzierungen der Wasserzeichen oder Dialektik und sogar das Alter der Schreiber.

Er geht auch detailgenau auf die Fähigkeiten der Zeichner ein. Hils und Dörnhöffer maßten sich an, diese als „Postkartenmaler“ bzw. „rein handwerkliche Zeichner“ zu titulieren. Welle bescheinigt ihnen schon mehr Fähigkeiten und stellt auch einige Theorien bezüglich der Farbgestaltung auf. Ich werde auf diese Theorien hier nicht weiter eingehen, da ich den Lesern nicht die Vorfreude darauf nehmen will, diese selbst zu lesen.

Licht ins Dunkel der (Un)Vollständigkeit

Der Autor beschreibt akribisch die Papiersorten, er zerpflückt die Foliierungen sowie die Lagenbestimmung, er rekonstruiert sogar das Buch unter dem Aspekt der seit ewigen Zeiten andauernden Diskussion, ob das Werk nun vollständig sei oder nicht, völlig neu.

Dank der zusätzlichen Ausbildung zum Sportwissenschaftler sowie seines Ringsporthintergrundes hat Dr. Welle einen ganz neuen Ansatz entwickelt Werke zum Fechtsport zu analysieren. Er verweist darauf, dass es nicht genügt, den Inhalt zu lesen, er besteht darauf diesen auch verstehen zu müssen. Nur so sei es möglich Rückschlüsse auf die Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit eines Werkes zu ziehen. Die Texte wörtlich zu verstehen ist zwar schon ein guter Arbeitsbeginn (vielen Fechtern ist das nicht vergönnt, man bedenke nur die ganzen nicht deutschkundigen Betreiber dieser Kunst), sie allerdings thematisch, inhaltlich und vor allem bei Fechtbüchern bewegungsmotorisch zu verstehen macht die Analyse der Bücher aber überhaupt erst möglich.

Auch hier geizt er abermals nicht mit Schelte über seine „Vorredner“, die das Werk aus rein kunsthistorischen bzw. germanistisch- philologischen Blickwinkeln betrachteten. Dr. Welle selbst lässt hier allerdings ebenfalls ein paar Fragen bezüglich seiner Herangehensweise offen. Er gliedert zwar den Ringerteil wunderschön und kombiniert die beschriebenen Techniken in Haupt- und Nebenstücke, vergisst aber tiefer in die Materie einzutauchen und anzugeben, wie er darauf gekommen ist.

Ein Umstand, der leider öfter anzumerken ist, da oftmals auch in den Fußnoten keine Hinweise darauf zu finden sind, woher die Informationen bzw. Arbeitsweisen bezogen wurden. Es tut der Qualität keinen Abbruch, ist aber dennoch auffällig.

Vielleicht ist es doch auch was für die Fechter

Absolut phänomenal wird das Werk ab Kapitel IV. Zuvor war es ein Quell an Informationen für Historiker, Germanisten und vor allem Philologen, aber die Kapitel IV, V und VI sind für Fechter wie ein Sechser im Lotto.

Warum? Nun, Eingeweihten ist bekannt, dass das Baumann Buch die Grundlage für einige spätere Werke ist. Hierzu zählen nicht nur die Kompendien von Paulus Hector Mair und Anton Rast, auch das Werk von Albrecht Dürer ist hier zu nennen. Der Autor macht sich nun an die Arbeit und durchforstet all diese Werke auf Gemeinsamkeiten der gezeigten Stücke, listet auf Basis des Baumann Fechtbuches alle Techniken auf und zeigt daneben die entsprechenden Abbildungen der anderen Werke. Eine unschätzbare Arbeit für alle Forscher der historischen Fechtkünste.

Kapitel V beinhaltet dann „lediglich“ eine Transkription des Textes, aber in Kapitel VI wird es wieder spannend für den Praktiker. Dr. Welle verfasst hier Kommentare über die Entsprechungen von Bildern und Texten. Auch wenn bei den meisten Punkten „Bild entspricht dem Text“ zu lesen ist, sind doch ein paar Anmerkungen vorhanden, die sehr aufschlussreich bei der Interpretation sein können. So ist zum Beispiel bei einem Stück Folgendes zu lesen „Bild entspricht weitgehend dem Text. Linker Ringer fasst vorne den Kragen und nicht wie vorgeschrieben hinten“. Natürlich kann man auf das selbst drauf kommen, aber wer sich schon selbst einmal mit der Rekonstruktion von Fechttechniken beschäftigt hat, wird selbst wissen, dass „Betriebsblindheit“ ein absolutes Luder ist.

Happiger Preis für ein Buch

Wenn man nun „endlich“ mit dem Lesen fertig ist, ist man aber noch lange nicht komplett fertig, denn das Buch kommt in zwei Bänden.

Der erste Band beinhaltet die zuvor beschriebene kodikologische Erfassung des Codex. Der zweite Band umfasst Farbscans des Werkes auf seidenmatt glänzendem Papier. Und das bringt mich jetzt zu meinem einzigen Kritikpunkt, den ich hier anzubringen habe.

Warum nicht die Kapitel V und VI (Transkription und Kommentare) in den Band mit den Bildern bringen? Warum sich hier nicht das Werk von Zabinski/Walczak zum Vorbild nehmen und auf der einen Seite das Bild und gegenüber die Transkription und die Bemerkungen anführen?

Es ist schon klar, dass diese Ausführung die Dicke des Bandes verdoppelt hätte, aber ganz ehrlich, wenn ich schon € 74,– für das Buch ausgebe, dann können diese ~ 150 Seiten nicht das Problem darstellen.

Conclusio

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Arbeit von Dr. Welle das Geld mehr als wert ist. Auch wenn der Autor eine gewisse Transparenz in seiner Methodik vermissen lässt, so ist es doch das wohl bis dato beste Buch seiner Art. Es enthält alles, was so ein Werk enthalten sollte, inklusive berechtigter Kritik am Kollegium – was das Lesen doch sehr amüsant gestaltet hat. 🙂

Links:

UTZ Verlag: http://www.utzverlag.de/

Dr. Rainer Welle:  http://wiktenauer.com/wiki/Rainer_Welle

Baumann Fechtbuch: http://wiktenauer.com/wiki/Codex_Wallerstein_(Cod.I.6.4%C2%BA.2)

Hans-Peter Hils:  http://wiktenauer.com/wiki/Hans-Peter_Hils

Karl Wassmannsdorff:   http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Wassmannsdorff

Friedrich Dörnhöffer:  http://archive.lib.msu.edu/DMC/fencing/albrecht.pdf

Heidemarie Bodemer: http://elib.uni-stuttgart.de/opus/volltexte/2008/3604/

Albrecht Dürer Fechtbuch:  http://wiktenauer.com/wiki/Oplodidaskalia_sive_Armorvm_Tractandorvm_Meditatio_Alberti_Dvreri_(MS_26-232)

Anton Rast Fechtbuch:  http://wiktenauer.com/wiki/Rast_Fechtbuch_(Reichsstadt_%22Sch%C3%A4tze%22_Nr._82)

Paulus Hector Mair Fechtbuch:  http://wiktenauer.com/wiki/Opus_Amplissimum_de_Arte_Athletica_(Cod.icon._393)

Liechtenauer Fechter:  http://www.liechtenauer-fechter.at